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Veränderung – Ungewissheit – Sehnsucht – Heimat finden

12. Oktober 2021

Menschen suchen vermehrt nach Heimat in einer Welt, die ungewiss erscheint und in einem Leben, das sich schneller ändert, als es verstanden werden kann. Mehr als je zuvor sehen sich selbst diejenigen mit Heimatlosigkeit konfrontiert, die eigentlich wohlbeheimatet sind. Die unheimliche Erfahrung, dass jede Gewissheit über Nacht wegbrechen kann, streute noch dazu 2020 das Coronavirus Sars-Cov-2 über den gesamten Planeten.

Heimatlosigkeit entsteht durch die Erschütterung, dass etwas nicht mehr so ist, wie es vertraut war, nicht nur in Bezug auf das Leben an einem Ort, sondern auch auf das Lebensverständnis, die Weltsicht, die Verbundenheit mit anderen. Die Welt, die gewiss erschien, wird ungewiss, wenn Beziehungen zerbrechen, Grenzen fallen, neue Techniken verunsichern, Arbeitsplätze in Frage stehen. Parallel zu aufbrechenden Ungewissheiten wächst das Bedürfnis nach einer verlässlichen, eingespielten Wirklichkeit, auf die gebaut und vertraut werden kann. Heimat ist ein Wort dafür.

Für alle bleibt kein Stein mehr auf dem anderen im 21.Jahrhundert, dem Jahrhundert der Disruption, des Bruchs und Umbruchs in allen Bereichen, in der Virtualisierung des Lebens, in den Beziehungen zwischen Geschlechtern und Kulturen, in Wissenschaft und Technik, in der Politik und Weltpolitik, im Verhältnis zur Natur. Rund um den Planeten wecken klimatische Veränderungen existentielle Ängste, weltweit scheint es keinerlei Verlässlichkeit mehr zu geben. Es ist nicht das erste Mal, dass die Welt aus den Fugen gerät, aber es ist jedes Mal zutiefst beunruhigend für die, die das in ihrer Zeit erleben. Wie tief dieses Mal der Bruch reicht, daran wird deutlich, wie rasch selbst das Neueste veraltet.

Wer Heimat sucht, will in einer festen Wirklichkeit verankert sein, statt sich in uferlosen Möglichkeiten zu verlieren. Nun aber fliesst alles, auch die Flussufer zerfliessen. Wo in einer Welt, die so unbeständig, ungewiss, ungemütlich erscheint, kann noch Beständigkeit, Gewissheit, Geborgenheit sein?

Heimat ist viel mehr als ein Ort. Sie entsteht auch durch die Beziehung zu sich selbst und anderen. Ein Resultat des neuerlichen Nachdenkens über Heimat könnte jedoch sein, beim nächtlichen Blick in den Sternenhimmel die kosmische Energie selbst in ihren Möglichkeiten und Ausformungen auch als Heimat zu sehen und sich bewusst zu werden: Mit jedem Blick in die Sterne nehme ich durch meine Augen die Wellen und Teilchen einer Energie in mich auf, die über Millionen und Milliarden von Jahren hinweg durchs Weltall gereist sind. Ursprünglich komme ich von dort und gehe letztlich wieder dorthin.

Text: Zeitschrift «Natur & Heilen», Oktober 10/2021.

Copyright:  Heimat finden – Vom Leben in einer ungewissen Welt. Von Wilhelm Schmid. Suhrkamp Verlag, Stuttgart 2021.